
Stacheln auf dem Weg der Tugend
Wenig bekannt ist: Philipp Melanchthon war Kenner und Liebhaber der bildenden Kunst
Von Stefan Rhein
Zu Albrecht Dürer und Lucas Cranach dem Älteren unterhielt er freundschaftliche Beziehungen. Und er war der Erste, der mit seinem Kennerblick Matthias Grünewald in das Triumvirat der deutschen Kunst des 16. Jahrhunderts einreihte. Sogar Entwürfe für Cranachs Bibelillustrationen hat Philipp Melanchthon geliefert.
Unter seinen über 600 lateinischen und rund 60 griechischen Gedichten finden sich mindestens zwölf, die Melanchthon auf Bilder geschrieben hat. Wie wichtig ihm diese Gattung war, zeigt sich daran, dass er zahlreiche Schüler dazu motiviert hat, ebenfalls Bildgedichte zu schreiben, und dass er ihnen Bilder als poetische Hausaufgaben vorgab.
Steht ein Bild nicht für sich allein? Die Bedeutung von Bildern ist offen und vielfältig - auch missverständlich. Die Reformatoren haben deshalb häufig mit Texten versucht, Bildern einen eindeutigen reformatorischen Sinn zu geben, zum Beispiel indem sie Bibelzitate beifügten. Selbst Bildthemen der altgläubigen Kirche konnten sie auf diese Weise mit einer neuen, evangelischen Aussage verknüpfen. Einmal deutet Melanchthon ein Bild der Heiligen Sippe mit Anna Selbdritt im Zentrum (also der heiligen Anna, ihrer Tochter Maria und dem Jesuskind) um. Mit Versen stellt der Reformator das Nebenmotiv der spielenden und lesenden Kinder in den Mittelpunkt. Nun ruft das Bild zum eifrigen Studieren auf, also zu dem, was ein christliches, gottgefälliges Leben voraussetzt.
Anders als Impulsivität hilft gerade besonnene Gelassenheit in heiklen Situationen. Sophrosyne heißt diese Tugend auf Griechisch. In der Antike und im Mittelalter verstand man solche Gelassenheit allerdings meist als Maßhalten in sexueller Hinsicht, also als Enthaltsamkeit. Cranachs Holzschnitt aus dem Jahr 1523 wurde zusammen mit einem griechischen Gedicht Melanchthons gedruckt. Höchstwahrscheinlich haben auch in diesem Fall Melanchthon und Cranach gemeinsam das Bildmotiv entworfen:
An die Sophrosyne
Wer hat dich, Sophrosyne, so am Katheder
aufgestellt? Kinder. / Wer ist der Maler,
der dich gemalt hat? Lucas. / Wozu trägst
du den Spross? Ich liebe die Zarten und
die Jungen. / Aber er hat eine Rose wachsen
lassen. Es ist eine sehr schöne Rose. /
Warum keimt sie in den wilden Disteln gedreht
hervor? / Du siehst den Weg zur Tugend,
schwierige Schönheit. / Ich bewundere deinen
Schmuck, du erstrahlst mit Halsketten von
glänzendem Stein? / Wie es sich geziemt,
ich hasse deswegen schlechte Sitten. /
Was aber bedeutet das Buch? Fremder, mir
liegt all dies am Herzen, / die Erkenntnis
des Heiligen und des Guten zu gewähren.
Schulknaben haben (das Bild) aufgehängt.
Melanchthon veröffentlichte Bild und Gedicht erstmals in einem Schulbuch. Was blühende, stachlige Pflanzen und das aufgeschlagene Buch mit Sophrosyne zu tun haben, erklären seine Verse. Der Strauß aus Rosen und Disteln unterstreicht: Ohne den beschwerlichen Tugendweg zu beschreiten, kann man kein erstrebenswertes, schönes Ziel erreichen. Und das aufgeschlagene Buch mahnt: Moralische Erziehung erfordert Bildung! Melanchthon richtet sich mit seiner Botschaft gegen die zahlreichen "schwärmerischen" Aussteiger, die damals verkündeten, wenn der Mensch ein unmittelbares Verhältnis zu Gott haben könne, sei religiöse Bildung nicht nötig. Sie lehnten aus religiösen Gründen jede theologische Wissenschaft ab. Völlig zu Unrecht, wie Melanchthon fand.